Rechnen vs Intuition,
oder doch was Anderes? Teil 1.
Seit Prof. W. Paulcke seine „Praktische Schnee- und
Lawinenkunde“ 1938 im Julius Springerverlag veröffentlicht hat, hat sich nichts
wirklich Wesentliches auf diesem Spezialgebiet getan.
Aufgrund dieser Grundlagen wurden Entscheidungshilfen- und
Strategien entwickelt, die alle als Input den aktuellen Lawinenlagebericht
haben.
Viel diskutiert wird vor allem darüber, welcher
Entscheidungsansatz zur Einschätzung der Lawinengefahr besser sei, jener über
„Berechnen“ der Lawinengefahr aus dem
LLB, oder dem Entscheiden durch Intuition.
Viele erfahrene Bergsteiger haben ihre ganz persönlichen
Erfahrungen mit Intuition in verschiedenen Situationen gemacht, so auch ich.
Es war bei meiner zweiten Expedition zum Mt Everest. Wir
hatten uns bereits sehr gut akklimatisiert und waren im Begriff zur sogenannten
„zweiten Rotation“ auf zu brechen. Alles war fertig geplant, die Sherpas
eingeteilt und die Lasten fertig gepackt. Nach dem Abendessen ging ich vor das
dining Zelt hinaus und warf einen Blick in den weltberühmten, gefährlichen
Khumbu Eisbruch. Milchig weiss schien ein gespenstischer Mond auf eine
Landschaft, die wie aus einem futuristischen Film auf mich wirkte. Plötzlich,
völlig aus heiterem Himmel zog sich mein Bauch zusammen. Ich will da nicht,
noch nicht, hinauf. Der Zweifel wurde so stark, dass ich mich zum Handeln
gezwungen sah. Im Zelt blies ich den gesamten Aufbruch für den nächsten Tag ab.
Die Sherpas schauten etwas komisch, meine Gäste nahmen meine Entscheidung
einfach zur Kenntnis.
Am nächsten Morgen weckte uns bereits um 0700 Uhr früh eine
hektische Betriebsamkeit im Camp. Ein Serac war umgestürzt, die Route wurde
verschüttet und sechs Sherpas anderer Teams starben in der nachfolgenden Eislawine…..
Ich hatte bei meinen zahlreichen Expeditionen, davon alleine
4 zum Mt. Everest und 8 x in die Antarktis, viele ähnliche Situationen wie oben
geschildert. Hatte also am eigenen Leib erlebt, wie Intuition funktionieren kann.
Neben den vielen Expeditionen war ich jedoch auch Winter für
Winter wochenlang in den Westalpen auf grandiosen Skitouren- und freeride Wochen unterwegs. Die große
Frage, die sich mir stellt, ist nun, ob man mit Intuition auch in
Lawinensituationen bzw. Entscheidungen bei Skitouren und Freeriden praktisch
anwenden kann. Also eine systematische
Methode für eine allgemeine Anwendung finden kann.
Viele mir bekannte Kollegen sind mit den bekannten Methoden
und Entscheidungshilfen a la „Stop or Go“, „Snowcard“ usw nicht wirklich
zufrieden. Vor allem, da als Input der Lawinenlagebericht verwendet wird, und
jeder 4. Bericht nicht korrekt ist, daher kann auch das Ergebnis solcher Hilfen
nicht wirklich zufriedenstellend sein.
Stell dir vor, wir nehmen den Wetterbericht im Voraus als
Grundlage dafür, in welchem Gang und auf welcher Straße wir, wie schnell, mit
dem Auto am nächsten Tag fahren dürfen. Schnell leuchtet es ein, dass das
Wetter hinter jedem Berg anders sein kann, und wir je nach örtlicher Situation
angepasst mit dem Auto fahren müssen. Also das Wetter selbst vor Ort
beurteilen, und unsere Entscheidungen selbst treffen müssen.
die Grundlagen der Lawinenkunde entstanden schon in den 30 er Jahren |
Um mein Problem lösen zu können, war es sehr wichtig
wissenschaftliche Erkenntnisse über Intuition zu finden. Ich begann schon vor
einigen Jahren mit der Lektüre von diversen Fachbüchern. In der „Szene der
Lawinenprognostiker“ ist das Werk Gerd Gigerenzers „Bauchentscheidungen“ schon
länger „en vogue“. Um mir ein einigermaßen objektives Urteil bilden zu können,
war aber ein Mehr an Informationen nötig. Gerd Gigerenzer gilt unter den
Wissenschaftern als Anhänger der „Intuition“, genauso wie etwa Gary Klein. Also
besorgte ich mir noch Bücher über Wissenschafter, die dem Entscheiden durch
Intuition eher skeptisch gegenüberstehen und landete neben Laszlo Merö bei
Daniel Kahneman. Kahneman erhielt zusammen mit Amos Tversky sogar den
Nobelpreis für Wirtschaft.
Kurz zusammengefasst
meine Schlußfolgerungen für die „Lawinenentscheidung“ aus der Fachliteratur
über Entscheiden:
Nach Gigerenzer ist Intuition nichts Anderes als Wiedererkennen
und verarbeiten in Faustregeln. Um wirklich
gute Intuition zu haben, müssen wir entsprechend lange Zeit haben, um ein
Muster zu „lernen“. Notwendige Voraussetzungen für Intuition sind also lange
genug Zeit dazu und ein regelmäßiges Muster der Problematik.
Nun wurde ich bei Laszlo Merö fündig. Er veranschaulicht in
seinem Werk „Kognition, Intuition und komplexes Denken“ interessante Stufen der
Kompetenz, die teils auf Forschungen eines Gründers der Entscheidungstheorie,
Herbert Simon, zurückgehen. Erforscht wurde diese „Kompetenzniveaus“ am
Beispiel von Schachspielern. Dies gelingt deswegen so gut, da wir im
Schachspiel sehr exakt messbare Leistungsniveaus der Spieler haben, in Form von
Punkten in einem Wertungssystem.
Obige
Grafiken stammen aus dem Buch „Die Grenzen der Venunft“ von Laszlo Merö. Es
handelt sich dabei um eine wirklich gute Übersicht der Kompetenzniveaus und den
Eigenschaften von Menschen in der entsprechenden Stufe.
Für
uns interessant ist vor allem der Unterschied zwischen „Alltags Intuition“ und
„Fachlichen Intuition“. Erstere ist zum Beispiel die Anwendung unserer
Muttersprache. Wir müssen nicht bewußt überlegen, was wir wie als nächstes
sagen, wir sprechen einfach und drücken damit „irgendwie unbewußt aus“ was wir
Meinen.
Fachliche
Intuition, wie sie etwa Schachspieler auf dem Niveau von Grossmeistern haben,
kann man nur durch mindestens 10 jähriger hauptberuflicher Beschäftigung mit
der Materie erwerben. Das ist selbst für Profi Bergsteiger im Fachbereich
Lawinen eine gewaltige Zeitspanne um fachlich relevante Intuition über Lawinen
zu erwerben.
Dies
läßt den Schluss zu, dass es eigentlich nicht möglich ist, aufgrund von
Intuition zu einem allgemein gültigen System für „Lawinenentscheidungen“ zu
kommen, welches für die große Masse der Bergsteiger allgemein tauglich ist. Wie
wir durch die Kompetenzstufen ersehen können, ist eben ein großer Unterschied in
der Qualität der Intuition und der Erfahrung gegeben.
Was
bedeutet das nun für unser Problem mit den Entscheidungsmethoden in der
Lawinenkunde, also Entscheidungen über „zu gefährlich“, oder „geht schon“ zu
treffen?
Nach
einigen Überlegungen glaube ich, dass wir den gesamten Bereich
Lawinenentscheidungen neu „aufstellen“ müssen. Wir müssen uns entgültig von der
Möglichkeit verabschieden, im Lawinenbereich exakte Entscheidungen im Sinne von
„richtig“ oder „falsch“ treffen zu können. So wie es im Bereich der Logik und
der Mathematik viele Bereiche gibt, die nicht eindeutig mit wahr oder falsch zu
entcheiden sind. Man denke nur an Gödelsche Frage wie z. b. „Ein Lügner sagt
ich lüge nie“, spricht er die Wahrheit, oder nicht……
Also
doch „was Anderes“. Ich werde das im Teil 2 behandeln.
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