Montag, 2. Januar 2017

Rechnen vs Intuition, oder doch was Anderes?



 Rechnen vs Intuition, oder doch was Anderes?  Teil 1.

Seit Prof. W. Paulcke seine „Praktische Schnee- und Lawinenkunde“ 1938 im Julius Springerverlag veröffentlicht hat, hat sich nichts wirklich Wesentliches auf diesem Spezialgebiet getan.
Aufgrund dieser Grundlagen wurden Entscheidungshilfen- und Strategien entwickelt, die alle als Input den aktuellen Lawinenlagebericht haben. 

Viel diskutiert wird vor allem darüber, welcher Entscheidungsansatz zur Einschätzung der Lawinengefahr besser sei, jener über „Berechnen“  der Lawinengefahr aus dem LLB, oder dem Entscheiden durch Intuition.

Viele erfahrene Bergsteiger haben ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit Intuition in verschiedenen Situationen gemacht, so auch ich.
Es war bei meiner zweiten Expedition zum Mt Everest. Wir hatten uns bereits sehr gut akklimatisiert und waren im Begriff zur sogenannten „zweiten Rotation“ auf zu brechen. Alles war fertig geplant, die Sherpas eingeteilt und die Lasten fertig gepackt. Nach dem Abendessen ging ich vor das dining Zelt hinaus und warf einen Blick in den weltberühmten, gefährlichen Khumbu Eisbruch. Milchig weiss schien ein gespenstischer Mond auf eine Landschaft, die wie aus einem futuristischen Film auf mich wirkte. Plötzlich, völlig aus heiterem Himmel zog sich mein Bauch zusammen. Ich will da nicht, noch nicht, hinauf. Der Zweifel wurde so stark, dass ich mich zum Handeln gezwungen sah. Im Zelt blies ich den gesamten Aufbruch für den nächsten Tag ab. Die Sherpas schauten etwas komisch, meine Gäste nahmen meine Entscheidung einfach zur  Kenntnis.
Am nächsten Morgen weckte uns bereits um 0700 Uhr früh eine hektische Betriebsamkeit im Camp. Ein Serac war umgestürzt, die Route wurde verschüttet und sechs Sherpas anderer Teams starben in der nachfolgenden Eislawine…..
Ich hatte bei meinen zahlreichen Expeditionen, davon alleine 4 zum Mt. Everest und 8 x in die Antarktis, viele ähnliche Situationen wie oben geschildert. Hatte also am eigenen Leib erlebt, wie Intuition  funktionieren kann. 

Neben den vielen Expeditionen war ich jedoch auch Winter für Winter wochenlang in den Westalpen auf grandiosen Skitouren-  und freeride Wochen unterwegs. Die große Frage, die sich mir stellt, ist nun, ob man mit Intuition auch in Lawinensituationen bzw. Entscheidungen bei Skitouren und Freeriden praktisch anwenden kann. Also eine systematische  Methode für eine allgemeine Anwendung finden kann. 

Viele mir bekannte Kollegen sind mit den bekannten Methoden und Entscheidungshilfen a la „Stop or Go“, „Snowcard“ usw nicht wirklich zufrieden. Vor allem, da als Input der Lawinenlagebericht verwendet wird, und jeder 4. Bericht nicht korrekt ist, daher kann auch das Ergebnis solcher Hilfen nicht wirklich zufriedenstellend sein.  

Stell dir vor, wir nehmen den Wetterbericht im Voraus als Grundlage dafür, in welchem Gang und auf welcher Straße wir, wie schnell, mit dem Auto am nächsten Tag fahren dürfen. Schnell leuchtet es ein, dass das Wetter hinter jedem Berg anders sein kann, und wir je nach örtlicher Situation angepasst mit dem Auto fahren müssen. Also das Wetter selbst vor Ort beurteilen, und unsere Entscheidungen selbst treffen müssen.

die Grundlagen der Lawinenkunde entstanden schon in den 30 er Jahren

Um mein Problem lösen zu können, war es sehr wichtig wissenschaftliche Erkenntnisse über Intuition zu finden. Ich begann schon vor einigen Jahren mit der Lektüre von diversen Fachbüchern. In der „Szene der Lawinenprognostiker“ ist das Werk Gerd Gigerenzers „Bauchentscheidungen“ schon länger „en vogue“. Um mir ein einigermaßen objektives Urteil bilden zu können, war aber ein Mehr an Informationen nötig. Gerd Gigerenzer gilt unter den Wissenschaftern als Anhänger der „Intuition“, genauso wie etwa Gary Klein. Also besorgte ich mir noch Bücher über Wissenschafter, die dem Entscheiden durch Intuition eher skeptisch gegenüberstehen und landete neben Laszlo Merö bei Daniel Kahneman. Kahneman erhielt zusammen mit Amos Tversky sogar den Nobelpreis für Wirtschaft.
 Kurz zusammengefasst meine Schlußfolgerungen für die „Lawinenentscheidung“ aus der Fachliteratur über Entscheiden:
Nach Gigerenzer ist Intuition nichts Anderes als Wiedererkennen und verarbeiten in Faustregeln.  Um wirklich gute Intuition zu haben, müssen wir entsprechend lange Zeit haben, um ein Muster zu „lernen“. Notwendige Voraussetzungen für Intuition sind also lange genug Zeit dazu und ein regelmäßiges Muster der Problematik.
Nun wurde ich bei Laszlo Merö fündig. Er veranschaulicht in seinem Werk „Kognition, Intuition und komplexes Denken“ interessante Stufen der Kompetenz, die teils auf Forschungen eines Gründers der Entscheidungstheorie, Herbert Simon, zurückgehen. Erforscht wurde diese „Kompetenzniveaus“ am Beispiel von Schachspielern. Dies gelingt deswegen so gut, da wir im Schachspiel sehr exakt messbare Leistungsniveaus der Spieler haben, in Form von Punkten in einem Wertungssystem.





Obige Grafiken stammen aus dem Buch „Die Grenzen der Venunft“ von Laszlo Merö. Es handelt sich dabei um eine wirklich gute Übersicht der Kompetenzniveaus und den Eigenschaften von Menschen in der entsprechenden Stufe.
Für uns interessant ist vor allem der Unterschied zwischen „Alltags Intuition“ und „Fachlichen Intuition“. Erstere ist zum Beispiel die Anwendung unserer Muttersprache. Wir müssen nicht bewußt überlegen, was wir wie als nächstes sagen, wir sprechen einfach und drücken damit „irgendwie unbewußt aus“ was wir Meinen.
Fachliche Intuition, wie sie etwa Schachspieler auf dem Niveau von Grossmeistern haben, kann man nur durch mindestens 10 jähriger hauptberuflicher Beschäftigung mit der Materie erwerben. Das ist selbst für Profi Bergsteiger im Fachbereich Lawinen eine gewaltige Zeitspanne um fachlich relevante Intuition über Lawinen zu erwerben.
Dies läßt den Schluss zu, dass es eigentlich nicht möglich ist, aufgrund von Intuition zu einem allgemein gültigen System für „Lawinenentscheidungen“ zu kommen, welches für die große Masse der Bergsteiger allgemein tauglich ist. Wie wir durch die Kompetenzstufen ersehen können, ist eben ein großer Unterschied in der Qualität der Intuition und der Erfahrung gegeben.
Was bedeutet das nun für unser Problem mit den Entscheidungsmethoden in der Lawinenkunde, also Entscheidungen über „zu gefährlich“, oder „geht schon“ zu treffen?
Nach einigen Überlegungen glaube ich, dass wir den gesamten Bereich Lawinenentscheidungen neu „aufstellen“ müssen. Wir müssen uns entgültig von der Möglichkeit verabschieden, im Lawinenbereich exakte Entscheidungen im Sinne von „richtig“ oder „falsch“ treffen zu können. So wie es im Bereich der Logik und der Mathematik viele Bereiche gibt, die nicht eindeutig mit wahr oder falsch zu entcheiden sind. Man denke nur an Gödelsche Frage wie z. b. „Ein Lügner sagt ich lüge nie“, spricht er die Wahrheit, oder nicht……
Also doch „was Anderes“. Ich werde das im Teil 2 behandeln.

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